“You are thinking!” - A Childhood Memory
Jakob Gautel, 2011

I grew up in a non religious family with a humanist and open-minded attitude. But for family reasons (to please my grand-mother) I had been baptised, and so went to religious instruction lessons at primary school.
In the 4th class we had a rather strict religion teacher. One day, when the class had yet again not been paying attention, she asked us a rather tricky theological question. We should think about it, and she would check to see if our effort was real. We had to sit at our tables, being well behaved and feeling intimidated, trying as hard as we could to “think”, while the mistress walked through the lines, stopping in front of every child, scrutinizing his or her expression and giving her verdict : “You’re thinking, well done.” “Your thoughts are somewhere else, concentrate!” “You’re just faking.” In some cases her verdict was devastating. Unconsciously I was thinking “Is that real? Does she really know how to do that? Can she read our thoughts?” What gave her the right to judge our thoughts as simply as that, by just looking ?
I was sitting somewhere in the middle, heard her first judgements, her steps coming nearer, stopping, the verification pause and then the verdict, pronounced in a sharp voice. I was sweating with anguish, trying desperately to look thoughtful, though it was absolutely impossible to hold onto one clear thought, and if I was thinking of something, it must have been about the absurdity of this situation. After seconds that felt endless, she pronounced her verdict : “You, you are thinking.”
If I had ever had any doubts about the words of a grown-up, if I had ever suspected that one shouldn’t trust authorities, now my doubts had been confirmed. And if I had already sensed that appearances could be deceptive, that you should’t rely on what you see, I’ve just seen irrefutable evidence. Because I knew that she was wrong. I knew that I hadn’t been thinking about the question she asked. And that her masterly self-sufficient moral authority had been deceived by my apparently well simulated facial expression.
What a strange case of misuse of authority. Or extreme arrogance.
Shortly afterwards my father, my brother and I, for this and other reasons, quit church.
An underlying theme of my artistic work, the relationship between appearance and essence, and the suspicion that deceptive appearance might hide another reality, is doubtlessly also grounded in this key experience.

„Du denkst nach!” - ein Kindheitserlebnis

Ich komme aus einem nicht religiösen, eher humanistisch und freidenkerisch eingestellten Elternhaus. Ich bin aber aus familiären Gründen (der Großmutter zuliebe) damals getauft worden. Deshalb ging ich in der Grundschule in das Pflichtfach Religion.
In der 4. Klasse hatten wir eine ziemlich strenge Religionslehrerin. Eines Tages, als die Klasse mal wieder unaufmerksam gewesen war, stellte sie uns eine knifflige Frage zu einem theologischen Thema. Wir sollten über die Frage nachdenken, und sie würde nachprüfen, ob wir uns auch wirklich anstrengten. So saßen wir also brav und eingeschüchtert an unseren Tischen und bemühten uns, „nachzudenken”, während die Lehrerin durch die Reihen ging, vor jedem Kind anhielt, ihm lange prüfend ins Gesicht sah und dann ihr Verdikt sprach : „Du denkst nach, gut so.” „Du bist mit deinen Gedanken woanders, konzentriere dich !” „Du tust nur so !” In einigen Fällen war ihr Urteil vernichtend. Diffus dachte ich „Stimmt das ? Kann sie das wirklich ? Kann sie Gedanken lesen ?” Mit welchem Recht erlaubte sie sich, unsere Gedanken so dem Augenschein nach zu beurteilen ?
Ich saß irgendwo in der Mitte, hörte die ersten Urteilssprüche, hörte ihre Schritte näherkommen, anhalten, die prüfenden Ruhepausen, das mit scharfer Stimme gesprochene Urteil. Dann stand sie vor mir. Angstschweiß brach mir aus, angestrengt bemühte ich mich, nachdenklich auszusehen, obwohl es völlig unmöglich war, einen klaren Gedanken zu fassen, und ich, wenn überhaupt an etwas, nur an die Absurdität dieser Situation denken konnte. Nach Sekunden, die mir endlos schienen, sprach sie ihr Urteil : „Du, du denkst nach !”
Wenn ich je Zweifel gehabt haben sollte an den Worten eines Erwachsenen, wenn je in mir der Verdacht geschwelt haben sollte, daß man Autoritäten nicht trauen darf, dann sind sie in diesem Moment bestätigt worden. Und wenn ich je geahnt haben sollte, daß der Schein trügt, daß man sich auf das, was man sieht, nicht verlassen soll, dann hatte ich hier dafür den unumstößlichen Beweis. Ich
wußte ja, daß sie unrecht hatte. Ich wußte ja, daß ich in dem Moment nicht nachgedacht hatte über die Frage. Und daß ihre herrschaftliche selbstzufriedene moralische Autorität sich in diesem Moment hatte täuschen lassen durch meinen offensichtlich gut gelungenen Gesichtsausdruck.
Was für ein seltsamer Fall von „Amtsanmaßung”. Ja, Hybris sogar.
Kurz darauf sind mein Vater, mein Bruder und ich, aus diesem und anderen Gründen, aus der Kirche ausgegetreten.
Ein Grundthema meiner künstlerischen Arbeit, der Zusammenhang zwischen Sein und Schein, und der Verdacht, daß der Schein trügen und daß sich dahinter eine andere Realität verbergen kann, findet seine Wurzeln sicher auch in diesem Schlüsselerlebnis.